Alles, was die Psychiatrie weiß

Im Mai 2013 erscheint in den USA das überarbeitete Standardwerk der psychischen Erkrankungen. 160 Experten arbeiten bereits seit 1999 daran – und entscheiden, wer krank ist und wer nicht Von Fanny Jiménez

Der Amerikaner David Rosenhan stand im Winter 1969 am Eingang einer Psychiatrie im US-Bundesstaat Pennsylvania und behauptete, Stimmen in seinem Kopf zu hören. Mit der Diagnose Schizophrenie wurde er nicht nur sofort aufgenommen, sondern bekam auch gleich Antipsychotika verordnet. Allerdings: Rosenhan war gar nicht schizophren, sondern Psychologieprofessor des Swarthmore College nahe Philadelphia. Und er hatte sich gefragt, wie gut die Diagnosekriterien für psychische Erkrankungen eigentlich in der Realität funktionierten. Das Ergebnis war erschreckend. Rosenhan schleuste nicht nur sich, sondern auch sieben seiner psychisch soweit gesunden Studenten in insgesamt elf amerikanische Psychiatrien ein, alle mit nur einem Symptom: Stimmen zu hören. Alle wurden eingewiesen und bekamen teils starke Medikamente. 2100 Pillen insgesamt – einer falschen Diagnose wegen. Rosenhan berichtete von seinem Versuch im Fachblatt “Science” und stieß damit die erste Revision des seit 1952 bestehenden “Diagnostic Manual of Mental Disorders”, kurz DSM, an. Es wurde zur Diagnose-Bibel aller US-Psychologen und Psychiater. Die dritte Überarbeitung, DSM-3, wurde 1980 veröffentlicht. Jede psychische Erkrankung, vorher nur prosaisch in einem Abschnitt beschrieben, erhielt nun eine genaue Symptom-Checkliste. Jede gestellte Diagnose musste eine Mindestanzahl der jeweils gelisteten Symptome erfüllen. Eine weitere Neuauflage, das DSM-4, folgte 1994, allerdings mit eher unwesentlichen Änderungen. Nun aber arbeitet ein Team, das im Kern aus 160 Forschern besteht, bereits seit 1999 am DSM-5, das voraussichtlich im Mai 2013 erscheinen wird. Das Ziel ist es noch immer, falsche oder unscharfe Diagnosen zu verhindern. Doch das ist nicht ganz einfach. Symptome können stark oder schwach ausgeprägt sein, Verläufe der Erkrankungen sehr stark schwanken, und Krankheitsbilder können sich überlappen oder mehrere zusammen auftreten. Das führt zu Verunsicherungen bei der Diagnose. So kommt es, dass die in den USA am häufigsten diagnostizierte Essstörung die “Essstörung ohne nähere Angabe” ist, die häufigste Persönlichkeitsstörung die “Persönlichkeitsstörung ohne nähere Angabe”, und die häufigste Diagnose zum Autismusspektrum die “Entwicklungsstörung ohne nähere Angabe”. Den an der Neuauflage arbeitenden Experten ist es deshalb wichtig, das Standardwerk so übersichtlich wie möglich zu machen. Zukünftig sollen Therapeuten und Ärzte nicht nur die Symptome selbst erfassen, sondern auch deren Schweregrad auf einer dreistufigen Skala angeben. Eine Diagnose des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADHS) etwa erfordert dann nicht nur, einem Kind mangelnde Konzentrationsfähigkeit zu attestieren, sondern diese auf einer Skala einzuschätzen. ADHS wurde 1994 mit ins Manual ausgenommen und ist seither ein Paradebeispiel für Überdiagnosen. Das soll mit dem neuen System weitgehend vermieden werden. Bei anderen Erkrankungen wie der Depression wird es mit dieser Abstufung auch möglich, die jeweils bestmögliche Therapie zu wählen. Denn leichte Depressionen profitieren eher von Kurzzeittherapien, schwere dagegen von einer Kombination aus Antidepressiva und längerer Psychotherapie. Mit der Skaleneinschätzung sollen Diagnosen genauer werden. Zudem spiegeln sie die Erkenntnis, dass psychische Gesundheit und psychische Erkrankung keine voneinander abgetrennten Einheiten sind, sondern langsam ineinander übergehen. Einige Krankheiten werden gänzlich entfallen. Das Asperger-Syndrom etwa, eine Entwicklungsstörung, bei der Kinder den Kontakt zu anderen Menschen meiden, dafür jedoch häufig sehr spezielle Interessen entwickeln, wird in Zukunft unter den autistischen Störungen seinen Platz einnehmen. Gänzlich aus dem Manual entfernt wird auch das Rett-Syndrom, denn diese Entwicklungsstörung kann inzwischen durch einen Gen-Test nachgewiesen werden. Das sogenannte “Attenuierte Psychose-Syndrom”, eine Art Risikodiagnose für spätere psychotische Erkrankungen, fällt ebenfalls weg. Etwa 30 Prozent aller Patienten mit dieser Diagnose entwickeln später eine Schizophrenie. Befürworter hatten argumentiert, dass das Syndrom eine frühere Behandlung ermöglicht, Gegner fanden, dass sie schlicht überflüssig wäre. Auch die Persönlichkeitsstörungen werden reduziert werden, weil sie zu stark ineinander übergehen. Die paranoide, schizoide und abhängige Persönlichkeitsstörung fallen daher weg, die anderen verbleiben im Manual. Aber es wird auch neue Diagnosen geben. Das “Binge-Eating” etwa: Bei dieser Störung gerät das Essverhalten bis hin zu Fressanfällen völlig außer Kontrolle. Auch die Glücksspielsucht, eine sogenannte stoffungebundene Sucht, ist Bestandteil der neuen DSM-Version. Die Internetsucht dagegen bleibt außen vor, obwohl sie als Problem weltweit bereits stark in den Fokus gerutscht ist. Doch die Forschung reicht bisher noch nicht aus, um eine solide Diagnose daraus zu bauen. Neu hinzu kommt auch die sogenannte Hypersexualität, die durch ein gestörtes sexuelles Verlangen gekennzeichnet ist. Für eine Untergruppe hyperaktiver Kinder gibt es ebenfalls eine neue Diagnose. “Disruptive Mood Dysregulation Disorder” (DMDD) war bei Experten schon länger als “ADHS plus” bekannt. Die betroffenen Kinder haben starke Selbstzweifel, sind traurig und ziehen sich zurück, sind andererseits aber auch sehr aggressiv. Sie bekamen bisher entweder die Diagnose ADHS oder die der kindlichen bipolaren Störung, früher auch als manisch-depressive Störung bekannt. Seit dem Jahr 2000 hatte sich die Zahl dieser Diagnose bei Kindern allerdings vervierfacht – ein Anlass für Experten, noch einmal genau hinzusehen. Das DSM-5 wird wie schon seine Vorgänger unmittelbare gesellschaftliche Auswirkungen haben. Denn es entscheidet wesentlich mit darüber, was als psychisch gesund und was als psychisch krank gilt. Zwar wird das DSM-5 vor allem in den USA verwendet, doch der in Europa gebräuchliche Diagnoseschlüssel “International Classification of Diseases” ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation WHO wird ebenfalls gerade überarbeitet. 2015 soll die Version ICD-11 erscheinen. Was darin dann steht, wird nicht unwesentlich vom neuen DSM-5 beeinflusst werden. Kritiker befürchten besonders bei den Süchten eine immense Zunahme der Diagnosen und damit der Kosten für das Gesundheitssystem. In den USA werden Krankenkassen künftig auf der Grundlage des neuen Diagnosemanuals schon bald entscheiden, ob eine Therapie bewilligt wird oder nicht. Sie könnten auch einen bestimmten Schweregrad der Erkrankung als Bewilligungsmaßstab anlegen. Gerichte werden ausgehend vom neuen DSM-5 darüber entscheiden, wer in Prozessen als zurechnungsfähig gilt und wer nicht. Und auch Forschungsanträge werden daraufhin begutachtet werden, ob sie im Einklang mit dem DSM-5 stehen. Zu einer weggefallenen Erkrankung wird es zukünftig wohl nicht mehr sonderlich viel Forschung geben. Da es nach wie vor meist nicht möglich ist, psychische Erkrankungen anhand biologischer Marker wie Genmutationen oder bestimmter klarer Aktivierungsmuster im Gehirn eindeutig nachzuweisen, sind die Diagnosekriterien des DSM-5 eine Art Übereinkunft der gesammelten Erfahrung von praktizierenden Therapeuten und dem Stand der Forschung. Viele wollen deshalb mitreden. Die Organisation im Hintergrund des Entwicklerteams, die “American Psychiatric Association” (APA), wurde in der Vergangenheit stark kritisiert, weil sie den Prozess der Überarbeitung nicht transparent machte. 2010 veröffentlichte sie deshalb einen Entwurf des neuen DSM-5 auf ihrer Webseite. Dort konnte jeder die Vorschläge einsehen und kommentieren. 50 Millionen Zugriffe von mehr als 500.000 Personen und mehr als 100.000 Kommentare zeugen von einer riesigen medialen Resonanz. Zu 90 Prozent ist das neue DSM-5 der APA zufolge nun fertig. 13 Konferenzen mit anfangs fast 400 internationalen Experten und sieben Jahre der Weiterentwicklung hat es gebraucht, um bis hierher zu kommen. Künftig soll das Manual öfter überarbeitet werden und neben der Printversion auch als elektronische Fassung vorliegen, in die Änderungen leichter eingearbeitet werden können.

http://www.welt.de/print/die_welt/wissen/article108430242/Alles-was-die-Psychiatrie-weiss.html?config=print 01.08.2012 Die Welt

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