VORWORT
Am Anfang des Projektes ARTline stand der Glaube, dass Kunst ein Instrument ist, mit dem wir unser Leben besser erkennen, verstehen und letztlich für uns förderlich verändern können. Verbunden mit Joseph Beuys Überzeugung, dass jeder Mensch ein Künstler ist, lag für uns als Borderline Trialog Kassel nichts näher, als dazu einzuladen, das Instrument Kunst auch im Bereich Borderline und Co. anzuwenden. Um die Einzelwerke nach der Erstellung zu einem Ganzen einer Ausstellung zu führen, die sich nicht in die vielen Facetten von Borderline verliert, wollten wir ein Thema für die zu gestaltende Werke setzen. Dafür bot sich unser Jahresmotto 2020 an, da wir uns mit ihm während des Jahres vertieft beschäftigen wollten und so die Arbeit in den Gruppen auch in die künstlerische Forschung einfließen konnte. So entstand das Thema der Ausstellung: Borderline & Co. – instabile Verhaltensmuster erkennen, verstehen, verändern.
Es war nicht nur eine trialogische Ausschreibung. Neben Betroffenen, Angehörigen und professionellen Helfern richtete sie sich an alle, die sich auf künstlerische Weise mit dem Thema auseinandersetzen wollen. Um Wettbewerb oder professionelle künstlerische Arbeit ging es zu keinem Zeitpunkt. Im Fokus stand das künstlerische Forschen des Einzelnen, dessen Ergebnis durch die Ausstellung zu einer gemeinsamen Geschichte verbunden wird, die mit Hilfe der Betrachter ständig neue Erzählungen von sich gibt.
Dieser Ausstellungskatalog gibt einige Aspekte solcher Erzählungen als Impuls zur Auseinandersetzung mit den Werken und dem Thema wieder. Sozusagen als Anregung, mit diesen Werken künstlerisch weiterzuarbeiten und zu forschen. Niemand hat die Deutungshoheit über diese Ausstellung und ihre Arbeiten, weder Künstler noch Kurator oder einer der vielen Betrachter. Im Gegenteil: Ausstellung und Katalog hätten ihr Anliegen verfehlt, wenn sich eine Interpretation bei vielen oder allen durchsetzen würde. Erst unterschiedliche Positionen zur Ausstellung und ihren Exponaten eröffnen uns die Möglichkeit zum Austausch, den wir als ein gemeinsames künstlerisches Forschen mit individuell unterschiedlichen Ergebnissen verstehen. Oder sagen wir es mit Pablo Picasso: „Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“ So verstehen wir den Katalog als Anregung für die jeweils eigenen künstlerischen Forschungen zu den einzelnen Werken und der Ausstellung als Ganzes.
Georg Müller / Kurator
ZUSAMMEN – ALLEIN
Am Anfang dieser Ausstellung ist das Portrait einer jungen Frau. Doch sie strahlt nichts von dem aus, was Jugend ist: Dynamik, Offenheit oder Kraft fehlen. Die Arme verschränkt, die Beine übereinandergeschlagen, das Gesicht bis unter die Nasenspitze im Schal verborgen und den Blick nach unten: der ganze sichtbare Körper symbolisiert den Rückzug in sich selbst. Gleichzeitig drückt diese Haltung auch den vergeblichen Versuch aus Wärme und Trost zu finden. Die Tragik ist: Je mehr sie versucht so Trost und Wärme zu finden, umso einsamer wird es in ihrer Beziehung.
Mehr InformationenGERAHMT
Die Tragik des Rückzugs führt ins Innere. Doch dort ist es leer – leer wie die schwarzen Rahmen auf dem klinisch reinen Weiß. Zwischen den Gegensätzen Schwarz und Weiß ist kein Übergang, keine Abstufung und auch keine weitere Farbe. So wird einerseits die Spaltung in Bewunderung und Verachtung ausgedrückt. Und wieder drängt sich nichts auf, muss das Gegenüber die Aufmerksamkeit ganz dem Rahmen widmen, um dessen Verzierungen zu sehen. Die Verzierungen der Rahmen sind das einzige, das dem Gegenüber Rückschlüsse auf das fehlende Innere erlaubt.
Mehr InformationenSCHWARZ UND WEISS (… UND DAZWISCHEN)
Schwarz – Weiß …, so sah meine Beziehungs-Welt viele Jahre aus. In meinen Gedanken und Gefühlen. Ich habe eine tiefe, allumfassende Leere empfunden – und verzweifelt versucht, diese mit Beziehungen zu (er-)fühlen.
Diese Beziehungen brachten mir viele Verletzungen und erfüllten mich mit inneren Schmerzen, die ich nie zu überwinden glaubte. Die Zeugen jener Zeiten sind Tagebücher, Bilder und andere Erinnerungsstücke. Ich bewahre Sie in einem Koffer auf, denn sie sind ein Teil von mir und haben mich jahrelang begleitet, als das einzige, was ich hatte. Ich kann und will mich nicht von ihnen trennen.
DU
Eine blühende Blume; kein weiteres Objekt. Der Hintergrund ist unklar, einerseits ein warmes, liebliches Rot-Orange, fast wie ein Abendhimmel, andererseits mischt sich eine dunkle, unklare Farbe darunter, bei der nicht klar ist, was sich darin verbirgt: Sind Gestalten, Objekte im Hintergrund zu erkennen? Ist es etwas Bedrohliches? Die dunkle Farbe im Hintergrund zeigt weder klare Objekte noch eine eindeutige Farbe, doch die Blume wird von ihr fast eingekreist. Neben dem durch das Rot-Orange erzeugten Gefühl von Wärme und Zuneigung werden durch die dunkle Farbe auch Unsicherheit und Angst spürbar. Doch an einer Stelle bricht im Hintergrund so etwas wie ein Lichtpunkt durch. Was bricht sich da Bahn?
Mehr InformationenIN MIR 1
Ein Bild voller innerer Unruhe und Emotion, das in sich gespalten ist. In einem Bereich des Werkes brodelt etwas Dunkles, in dessen Zentrum ein Herz ist. Doch es trägt nicht das für Liebe stehende Rot, sondern Schwarz, die Farbe der Trauer. Die pulsierenden roten Linien zeigen jedoch, dass in ihm trotzdem Leben und Liebe pochen und sich nach Erfüllung sehnen. Dem Herzschlag gelingt es, sich ein Umfeld entsprechend seiner Emotion zu schaffen. Das Schwarz breitet sich um das Herz aus, es entsteht eine eigene Welt, die Schutz bietet. Doch eine Beziehung zur rot dargestellten Umwelt gelingt nicht wirklich.
IN MIR 2
Gespaltenes Holz: Eine Abspaltung vom Baum, die innerlich tot ist. Die Liebe, symbolisiert durch die Rosen, die auf dieser Basis sich entwickeln soll, wird durch den weißen und schwarzen Bleistift, das Kippen zwischen den Extremen, abrupt unterbrochen.
Das Grau des Teppichs, auf dem sich die Abspaltung befindet, wirkt nicht wie die Balance zwischen den Extremen Schwarz und Weiß, sondern unterstreicht die Leblosigkeit des abgespaltenen Holzes. Die Klingen schaffen mit ihrer Verletzungsmöglichkeit die einzige Chance, sich zumindest über den Schmerz noch zu spüren.
ORIENTIERUNG
Ein Leuchtturm am Ufer; draußen auf dem Meer, wie ein Spiegelbild, ein weiterer, umhüllt von einer Glaskugel, und ein Schiff, das auf ihn zusteuert.
Leuchttürme geben Orientierung, sorgen dafür, dass Schiffe sicher in den Hafen gelangen. Doch hier steuert das Schiff nicht in Richtung Leuchtturm, sondern treibt hinaus aufs Meer, der Illusion eines Leuchtturms nach. Das Schiff verlässt die Stabilität verheißende Orientierung am Leuchtturm und begibt sich hinaus in die Instabilität der offenen See. Dabei wird die Orientierung am Leuchtturm nicht in Frage gestellt, doch sie erfolgt an einer Illusion eines Leuchtturms und führt so in die Instabilität.
VERANKERT
Zwei Schiffe auf offener See; das kleinere von beiden ankert am Segelmasten des größeren. Doch sie steuern auf unterschiedliche Ziele zu. Während das größere Schiff den Leuchtturm auf festem Grund anstrebt, segelt das kleinere auf die Illusion eines Leuchtturms auf offener See zu. Wenn nicht eines der Schiffe beisteuert, wird mindestens eines von beiden kentern, vermutlich beide. So gefährdet die Verankerung ineinander beide Schiffe. Ein Schiff muss beisteuern oder die Verankerung lösen, wenn nicht beide kentern sollen.
DER LIEBE EIERTANZ
„Der Liebe Eiertanz“ ist eine eigene Bildergeschichte in der Dramaturgie der Ausstellung. Er ist eine Ausstellung in der Ausstellung.
Tanz ist Bewegung, und so haben wir es hier auch mit Bewegt-Bildern zu tun – die einzigen in der ganzen Ausstellung. Das Video zeigt den Eiertanz an seinem Anfang. Wie sich die Beziehung tragisch weiterentwickelt, sehen wir nur noch in Fotos von den unterschiedlichen Stadien des Prozesses. Die Absolutheit des Du führt in die Selbstzerstörung der Beziehung wie der Partner selbst, die beide nur noch schemenhaft erkennbar sind.
FESTGEFAHREN
Ein Schachspiel, das schon weit fortgeschritten ist. An Figuren sind für Schwarz und Weiß nur noch jeweils der König und vier Bauern auf dem Feld. Die Situation ist unlösbar festgefahren: Die Bauern blockieren sich nicht nur gegenseitig, sondern auch so, dass die Könige in keiner Weise in das Spiel eingreifen können.
OHNE
Zentrum des Schachspiels ist der König. Ist er schachmatt, ist das Spiel aus, steht Sieger und Besiegter fest. Doch welchen Sinn macht ein Schachspiel ohne König? Keinen. Hier haben wir diese Situation. Es ist völlig egal geworden, welche Züge gemacht werden. Keiner kann gewinnen, keiner verlieren. Dazu bedarf es eines Königs, dem man schachmatt setzen kann. Ohne ihn ist das Spiel wie Radrennen ohne Fahrräder.
DAS GANZE UND DIE TEILE
Wer bin ich? Die Antwort darauf kann nie präzise gegeben werden, weil wir selbst einem permanenten Veränderungsprozess unterliegen. Dennoch entwickeln wir unsere Identität. Wenn wir in verschiedenen Lebenssituationen kongruent handeln, bezeichnen wir uns als authentisch. Herrscht in unserem Inneren jedoch Leere, ist dieser Prozess nicht möglich. Dann benötigen wir erlernte Rollen, um Handlungskompetenz zu entwickeln. Da nicht eine Rolle für die vielen verschiedenen Situationen unseres Lebens passt, legen wir uns ein ganzes Repertoire zu. Der sich kümmernde Familienvater zu Hause, der Rabauke auf dem Fußballplatz, der Tabulose im Internet … Der eine hat mit dem anderen nichts zu tun und kennt ihn auch nicht. So lässt sich in jeder Rolle klar und selbstbewusst handeln.
VERSUCHEN
Beziehungen zu gestalten ist wie ein Bild zu malen. Wir haben Gefühle, Gedanken und wollen diese ausdrücken. So versuchen wir es: Wir beginnen freudig, doch sind wir vielleicht schon etwas nervös und unsicher, ob es auch so werden wird, wie wir es uns vorstellen. Ein Wort, das missfällt, eine Geste, die irritiert, ein Pinselstrich, der nicht sitzt, plötzlich ist die strahlende Sonne zu Beginn umhüllt vom Grau des Misslingens.
MITTENDRIN
Ein Kopf mittendrin im Hirn. Wir kennen das ja aus Sprichwörtern: sich einen Kopf machen, sich den Kopf zerbrechen … Wir denken nach über uns, unsere Haltung und unser Handeln: „Wer sind wir?“ und „Was sollen, können, dürfen wir tun?“ Doch es ist ein Unterschied, ob wir dabei ins Grübeln verfallen, uns Illusionen machen, vielleicht sogar in Verschwörungstheorien abdriften oder ob wir uns geistig sammeln, unsere Haltung und Einstellung mit unserem Denken und Handeln abstimmen. Letzteres ist das Nachdenken, das relaxt, entspannt und aus dem wir Kraft und Klarheit zum Handeln schöpfen.
TRILOGIE
Dieses Werk ist aus dem stabilsten Material der ganzen Ausstellung: Bronze. Die Metalllegierung steht sinnbildlich für eine Beziehung, da sie selbst aus einer Verbindung entstanden ist: Kupfer und Zinn. Sie ist stabiler als jedes der beiden Ursprungsmetalle. So steht das Material dieser Arbeit auch dafür, dass Beziehungen uns stabilisieren können.
ICH – DU – WIR
Wie kann sie nun gelingen, die Stabilität inmitten der Instabilität? Vielleicht ist es die Balance zwischen Geborgenheit und Freiheit wie es dieses Bild symbolisiert. Jeder hat in der Beziehung seinen Kreis, der aber nicht geschlossen ist und so Freiraum bietet. So bleibt auch in der Beziehung ein Ich und ein Du. Doch genauso essentiell ist ein Wir, das durch den gemeinsamen Kreis mit dem Herz symbolisiert wird. So entsteht die Beziehungstrilogie von Ich – Du – Wir.
ANKERN
„Ankere in dir selbst und kein Sturm kann dich wegreißen.“ Die Arbeit nimmt diesen Spruch wörtlich und zeigt mit dieser humorvollen Geste eindrucksvoll, wie instabil ein reiner Selbstbezug ist. Wir benötigen ein Gegenüber, in dem wir ankern können; und etwas, das über uns hinausweist. Der Leuchtturm weist uns den sicheren Weg zum Hafen, in dem wir ruhen und neue Kraft schöpfen können. Das Entscheidende für uns selbst, für das Gegenüber und unsere Beziehung zu ihm ist, dass wir unsere wirklichen Leuchttürme sehen. Diese Orientierung lässt uns frei und klar entscheiden.
BALANCE
Das Bild zeigt eine Balance zwischen zwei sehr unterschiedlichen Partnern. Einerseits die Lilie, die lebenslang stabil an ihrem festen Ort verwurzelt ist; andererseits der Kolibri, die Verkörperung von schneller Bewegung. Kurioserweise ermöglicht ihm dieses Tempo des Flügelschlages als einzigem Vogel wie ein Hubschrauber stabil an einer Stelle in der Luft zu schweben oder auch seit- oder rückwärts zu fliegen. So erreicht er den Nektar der Blumen, von dem er sich ernährt. Diese intensive Nähe wird abgelöst vom plötzlichen, schnellen Abflug.
EPILOG
Instabile Verhaltensmuster in Beziehungen zu erkennen, zu verstehen und schließlich zu verändern ist die Trilogie des selbstbestimmten Handelns, dem wir uns auf diesem Wege weiter nähern wollen. Auch wenn wir nicht wissen, wohin uns diese Reise führt, stehen wir jeden Moment vor der Entscheidung, ob, wie und mit wem wir in welche Richtung weitergehen. Und jede dieser Entscheidungen gestaltet unser Innerstes mit, bildet unseren Charakter und unsere Haltung.
Für den Menschen sind Beziehungen existentiell. Dafür benötigen wir Begegnungen in Gleichwürdigkeit. Solche Beziehungen sind für uns so wichtig wie für den Fisch das Wasser; doch sie sind nicht einfach da: Wir müssen aufeinander zugehen, miteinander reden und zusammen gestalten. Damit das in der komplexen Situation der Kommunikation gelingt, bedarf es Wissen, Erfahrung und Mut. Beziehungen mit instabilen Verhaltensmustern im Zusammenhang mit Borderline & Co. erfordern von uns ein verändertes Bewusstsein und Verhalten. Künstlerisches Forschen ist ein Instrument, dies zu erlangen – und ARTline der Versuch, diese Erfahrung weiterzugeben.
Wir bedanken uns bei allen, die dieses Projekt ermöglichten: die Künstler, die Mitglieder des Borderline Trialog Kassel, die AOK, die uns finanziell unterstützte und uns für die analoge Ausstellung die Glasfront ihrer Räumlichkeiten in ihrer Geschäftsstelle in Kassel zur Verfügung stellte, die externen Helfer beim Aufbau der analogen Ausstellung, die Webdesignerin, die im virtuellen Raum Ausstellung und Katalog gestaltete … Doch davor waren alle jene, denen ich durch die Begegnung mit ihnen verdanke, dass ich zu dem geworden bin, der diese Idee kreierte und das Projekt initiierte und durchführte.
Georg Müller / Kurator