Sex and Drugs and Rock ‘n’ Roll
Früher standen bei Konzerten ein Becher Kokain und eine Flasche Whisky neben ihm, inzwischen ist er clean: Steven Tyler, Frontmann von Aerosmith.
Von Margit Mertens
Amy Winehouse, Michael Jackson, Janis Joplin & Co: Viele Stars führen ein ausuferndes, gefährliches Leben und pflegen chaotische Beziehungen, weil ihre Gehirnchemie aus dem Takt geraten ist.
Amy Winehouse torkelt auf die Bühne. Sie umarmt den Gitarristen, hält sich kurz an ihm fest, stolpert über Kabel. Verwirrt setzt sie sich mit dem Rücken zum Publikum auf eine Box, zieht sich ihre Schuhe aus. Schließlich wankt sie doch zum Mikrofon und beginnt, mit vor der Brust verschränkten Armen zu singen. Ihre raue, kehlige Stimme erklingt, die Fans jubeln. Auf dem linken Arm von Amy Winehouse sind Schnittwunden zu sehen, ihre rechte Hand ist verbunden.
Solche und ähnliche Bilder erinnern an das von Drogen geprägte Leben der Sängerin. Vor einem Jahr starb die damals 27-Jährige an einer Alkoholvergiftung.
Sie ist nur ein Fall unter Künstlern, es gibt unzählige andere: Michael Jackson, Nirvana-Sänger Kurt Cobain, Stones Gitarrist Brian Jones, Janis Joplin, Jimi Hendrix oder Jim Morrison von den Doors. Doch nicht der Ruhm macht die Stars krank, sondern sie leiden oft schon vorher unter einer sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörung. Und diese Störung hilft ihnen dabei, berühmt zu werden, lautet eine neue These von Psychologen. Mangel an Botenstoffen im Gehirn.
Die Borderline-Störung geht meist mit ausgeprägtem Narzissmus einher. Dieser sei die Antriebskraft, alles dafür zu tun, geliebt und verehrt zu werden, der Beste zu sein und sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Der Grund, besagt die neue Theorie, liege in einem Mangel an für Belohnung und Glücksgefühle zuständigen Botenstoffen im Gehirn. Betroffene seien ständig auf der Suche nach dem extremen Kick, der diesen Mangel kurzfristig ausgleicht.
„Natürlich gibt es unzählige Künstler, die vollkommen frei sind von irgendwelchen psychischen Störungen“, erklärt Borwin Bandelow, Psychologe an der Universität Göttingen. Auch seien Persönlichkeitsstörungen nicht die häufigsten psychischen Probleme von Promis, auch Depressionen, bipolare Störungen oder Angsterkrankungen träten bei Musikern, Schauspielern oder Literaten häufiger auf als in der Durchschnittsbevölkerung. Borderliner schwanken zwischen Nähe und Distanz.
„Extrem sind sicherlich die Persönlichkeitsstrukturen so mancher berühmter Personen“, stellt der Psychosomatiker Stephan Doering von der Uni Münster fest. Als Beispiele nennt er Musiker wie Velvet Underground oder The Cure, Maler wie Vincent van Gogh und Salvador Dali oder Stars wie Britney Spears und Klaus Kinski, „ohne dass dies etwas mit Störung und Behandlungsbedürftigkeit zu tun haben muss.“ Nicht jeder prominente Kreative sei ein geltungssüchtiger Narzisst.
„Dennoch fällt auf, dass bei den Megastars, vor allem bei denjenigen, die früh starben, Symptome einer Borderline-Störung offensichtlich waren“, sagt Bandelow. Dazu gehörten beispielsweise Jim Morrison, Amy Winehouse und Michael Jackson. Ohne leichtfertig eine Ferndiagnose stellen zu wollen, käme die charakteristische Mischung der aufgrund von Autobiografien oder Presseberichten feststellbaren Symptome bei keiner anderen Erkrankung vor. Diese Merkmale umfassen den Konsum unterschiedlicher Drogen, Medikamentensucht, Verlust der Impulskontrolle, heftige Stimmungsschwankungen, Essstörungen, Selbstverletzung, die Suche des Risikos, ausgeprägter Narzissmus und Probleme in den Partnerschaften.
In Beziehungen suchen Borderliner große Nähe. „Von außen betrachtet haben solche Menschen, die häufig darum ringen, nicht verlassen zu werden, und dann, wenn die Beziehung da ist, sie vor lauter Angst kaum ertragen können oder auch entwerten müssen, instabile oder auch sehr intensive, wechselnde zwischenmenschliche Beziehungen“, schildert Michael Franz von der Klink für Psychiatrie und Psychotherapie Bad Emstal in Hessen die typischen Nähe-Distanz-Konflikte.
Chronisches Gefühl der inneren Leere Diese Störung kann viele Gesichter haben. Ein häufiges Symptom ist eine starke Gemütserregung, Wut, schwer zu kontrollierende Emotionalität. „Unangemessene, starke Wut und wiederholte emotionale Entgleisungen können eines der Merkmale der Borderline-Störung darstellen“, sagt Franz. „Also jemand ist stark episodisch niedergeschlagen und kann sich davon kaum distanzieren, dann wieder ist er sehr reizbar, dann wieder sehr ängstlich“, erläutert er. „Es ist also die Stabilität der Instabilität, die diese Variante kennzeichnet.“ Dazu komme oft ein chronisches Gefühl der inneren Leere. „Klingt erst mal harmlos, ist aber, wenn man darunter leidet, ausgesprochen quälend.“ Bandelow fasst die Problematik zusammen: „Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen eine erschreckende und deutliche Häufung psychischer Probleme bei kreativen Künstlern und eine alarmierend erhöhte Todesrate, die hauptsächlich auf Drogen- und Alkoholmissbrauch zurückgeht.“ Menschen mit einer Borderline-Störung lernen schon im Kindes- und Jugendalter, wie sie andere auf sich aufmerksam machen können. „Und keiner kann tiefen Schmerz, Kummer, Trauer, Leid, Hass und Wut ergreifender und authentischer ausdrücken als Menschen, die selbst ständig unter Seelenqualen leiden“, meint Bandelow. Denken wir nur an Amy Winehouse’ Song „Back to Black“ oder an „I Will Always Love You“ von Whitney Houston. Auch die kürzlich verstorbene Sängerin hätte laut Bandelow die klassische Symptommischung einer Borderlinerin gezeigt. Das Bindeglied zwischen Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll ist Bandelow zufolge das Belohnungssystem des Gehirns. „Eine neue Theorie vermag nun plausibler als bisherige die oft unverständlichen und gefährlichen Verhaltensweisen der Borderline-Patienten zu erklären.“ Im Gehirn gibt es das Belohnungssystem, das uns immer dann mit Dopamin belohnt, wenn wir unsere primären Triebe befriedigen, also Essen, Trinken und Sex. Dieses System ist eng mit dem der körpereigenen Drogenproduktion verbunden, dem sogenannten endogenen Opiatsystem.
Dieses schüttet Botenstoffe aus, die Endorphine, die ähnlich wirken wie das Schmerzmittel Morphin. Die Selbstverletzung beseitigt die Leere Endorphine lindern Schmerz und machen euphorisch. „Sie werden in Stresssituationen ausgeschüttet“, erklärt Bandelow, zum Beispiel, wenn ein Tier kämpft und aus Wunden blutet. Es verspürt keinen Schmerz sondern Euphorie, so dass es den Überlebenskampf besser meistert. „Eine der beunruhigendsten Eigenschaften von Borderline-Patienten sind die häufigen Selbstverletzungen. Sie berichten oft, dass sie dabei keinen Schmerz verspüren, sondern im Gegenteil einen Kick bekommen, der ihre unerträglichen Leeregefühle kurzfristig bessert“, stellt Bandelow fest. Dies könne mit einer Fehlfunktion des Opiatsystems erklärt werden: Wenn Blut fließt, würden Endorphine ausgeschüttet, die schmerzunempfindlich machen und die Leere mildern. Auch angenehme Dinge gehen mit dem Freisetzen von Endorphinen einher: der Anblick schöner Gesichter, Sex, Streicheleinheiten oder Massagen, ein warmes Bad, Sport und wenn man für seine Leistung gelobt oder bejubelt wird. Applaus sei Koks für die Seele, so Bandelow. Gegenspieler dieses Opiatsystems ist eine soziale Angststruktur im Gehirn, die dafür sorgt, dass wir nicht ungehemmt und auf Kosten sozialer Normen leben. „Ist das Gleichgewicht zwischen dem endogenen Opiatsystem und dem Angstsystem schwer gestört, kann es zu gefährlichen und unsozialen Versuchen kommen, das Opiatsystem zu stimulieren, wie Drogenmissbrauch, Vergewaltigung oder Raubmord“, erklärt Bandelow.
Diese Fehlfunktion kann daher rühren, dass entweder zu wenig Endorphine zirkulieren oder dass die Rezeptoren für die Glücksboten zu unempfindlich sind. „Dies führt dazu, dass die Patienten ständig einen zu niedrigen Pegel der Wohlfühlhormone haben, ein Zustand, der sich in ständigen Leeregefühlen und Missstimmung bemerkbar macht“, betont der Göttinger Psychologe. Daher entwickeln Betroffene Techniken, ihren Endorphinspiegel hochzuregeln, auch um den Preis der Selbst- oder Fremdgefährdung. Viele der exzessiven, riskanten und provokanten Verhaltensweisen von Borderlinern könnten mit dem unersättlichen Drang erklärt werden, das Drogensystem im Gehirn zu aktivieren – koste es, was es wolle. Einer der schnellsten Wege zum Glücksgefühl sind Heroin oder Kokain, die direkt an den Opiatrezeptoren im Gehirn andocken. „Natürlich versuchen auch alle gesunden Menschen, ihre Wohlfühlhormone möglichst im oberen Bereich zu halten, aber nur Borderline-Patienten gehen dabei über die Grenzlinie, ohne die schädlichen Folgen zu bedenken“, betont Bandelow.